Abstinenz liegt voll im Trend - vor allem bei der ohnehin achtsamen Generation Z. Unter dem Stichwort Mindful Drinking trinken und feiern sie immer öfter ohne Alkohol. Aber nicht ohne Drinks, die so aussehen und (fast) so schmecken wie Champagner, Wein oder Gin Tonic.
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Im Wein liegt die Wahrheit
Die Königsklasse allerdings ist alkoholfreier Wein. Versuche, dieses jahrtausendealte Kulturgut umdrehungsfrei herzustellen, schmeckten bislang wahlweise nach Traubensaft oder Essig. Und Gründer wie Philipp Rößle, 34, vom Start-Up "Kolonne Null" versuchen, ganz ohne Winzererfahrung und eigenes Weingut, den achtsamen Trinkern ihre Abende zu verschönern.
Also auf zur Weinprobe in den Berliner Stadtteil Schöneberg, wo Rößle und sein Team – Önologen, Chemiker und Wein-Fans – in hellen Räumen im Hinterhof am perfekten Geschmack laborieren. Eigentlich ist Rößle Künstler. Vor dreieinhalb Jahren gründete er „Kolonne Null“ aus einem ähnlichen Grund wie Isabella Steiner ihren Späti: weil er selbst auf der Suche nach alkoholfreien Alternativen war, die cool sind und nicht Cola. „Erwachsen eben“, sagt er.
Die ersten Versuche füllten er und seine Compagnons in 0,2er-Flaschen und verkauften sie sehr erfolgreich auf Wochenmärkten. „Natürlich ist der Gedanke, alkoholfreien Wein zu machen, erst einmal seltsam“, sagt er. „Aber ich komme aus der Kunstwelt, da geht es ja auch darum, die Dinge anders und individuell anzugehen und zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein“. Schon im ersten Jahr nach der Gründung produzierte und verkaufte das junge Unternehmen bereits Liter im sechsstelligen Bereich.
Wer alkoholfreien Wein herstellen will, braucht erst einmal welchen mit Alkohol, dem dieser dann entzogen wird. Bevor der Mindful-Drinking-Trend sich daran machte, auch die Weinwelt – zumindest eine Nische davon – zu revolutionieren, war die Grundlage der alkoholfreien Varianten meist billiger Tafelwein, dem der Alkohol entzogen und Zucker zugesetzt wurde. „Kolonne Null“ verwendet für seine Produkte ausschließlich Premiumweine verschiedener Winzer, die vorher aufwendig verkostet und getestet werden. Nur ein guter Wein mit Alkohol wird auch ein guter ohne.
Der Pinot Noir, zum Beispiel, den Rößle nun ins Glas schenkt: ein helles Rot, Holzaromen, filigran und, nun ja, weinig. Die limitierte Session in Zusammenarbeit mit dem prämierten Weingut Alois Lageder aus Südtirol war schnell ausverkauft, trotz des Preises von 18 Euro pro Flasche. Derzeit hat „Kolonne Null“ 10 Produkte in ihrem Premiumsegment im Angebot, von Prickelnd über Rosé bis Riesling und Burgunder – und verkauft auch an die Fine Dining- und Sterne-Gastronomie wie das Borchardts in Berlin, den Bayerischen Hof in München oder das Hotel Tortue in Hamburg. Auf die Frage, warum die Nachfrage denn so gestiegen sei, antwortet Rößle: „Weil es vielen um die Anlässe geht, nicht um den Alkohol. Um Rituale. Der Feierabend, zum Beispiel, die Theaterpause, das Vier-Gänge-Menü. Wer will da schon Limo oder Tee?
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Autor*in: Barbara Jung
Erschienen: FOCUS 10/2022, S.94-97